5. Station: Pfuhlgasse 6 - Karl Heinz Spiegel

Wir gehen jetzt das kurze Stück in der Löhrstraße zur Ampel zurück, überqueren die Straße und biegen nach rechts in die Pfuhlgasse ein. Dort gehen wir etwas weiter.

Hier vor dem Haus Pfuhlgasse 6 liegt der Stolperstein für Karl Heinz Spiegel. 

Stolperstein für Karl Heinz Spiegel.

Karl Heinz Spiegel hatte ein ganz anderes Schicksal, er war auch kein Jude. Karl Heinz Spiegel war ein kranker, kleinwüchsiger Mann. 

Im Jahr 1902 hier in Koblenz geboren, lebte er zunächst in Bad Ems. In den ersten Volksschuljahren, mit 8-9 Jahren bekam er seinen ersten epileptischen Anfall. Auch litt er an Rachitis („Knochenerweichung“). Diese führte zu einem verkrümmten Rücken und einem Beckenschiefstand und war die Ursache für seinen Kleinwuchs mit einer Körpergröße von 138 cm. Gleichwohl war er berufstätig, im Sommer in seinem erlernten Beruf als Polsterer und Tapezierer, im Winter war er mit Erdarbeiten beschäftigt.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 kam zu diesen Krankheiten der Kampf um seine körperliche Unversehrtheit und sein Leben hinzu. Das begann mit dem von den Nazis bereits am 14. Juli 1933 erlassenen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. 

Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933.

Dieses Gesetz erlaubte die Sterilisation von Menschen mit bestimmten Krankheiten und Behinderungen (§ 1) – und das auch gegen ihren Willen. Den Antrag auf Sterilisation konnten Amts- und Anstaltsärzte stellen und wenn die Betroffenen sich gegen den Eingriff wehrten, konnten sie sogar mit Hilfe der Polizei auf den Operationstisch gezwungen werden. 

Über die Sterilisation entschieden sog. Erbgesundheitsgerichte. Davon gab es 220 im ganzen Deutschen Reich. Sie waren mit einem Richter als Vorsitzendem und zwei Ärzten als Beisitzer besetzt. Ein solches Erbgesundheitsgericht war auch am Amtsgericht in Koblenz eingerichtet. Dieses Gericht ordnete allein in den beiden ersten Jahren 1934 und 1935 530 bzw. 920 Sterilisationen an. Viele Operationen geschahen im Evangelischen Stift St. Martin. Ausgeführt wurden mindestens 395 dieser Verstümmelungen vom Leitenden Chefarzt, Chirurgen und Gynäkologen Dr. Fritz Michel. Bekannt ist auch, dass am Städtischen Krankenhaus Kemperhof in Moselweiß fast 1.000 Frauen und Männer solche Eingriffe von verschiedenen Ärzten erleiden mussten. Weitere Zwangssterilisationen nahmen auch Ärzte des damals noch bestehenden Elisabeth-Krankenhauses in der Mainzer Straße vor. Kein einziger all dieser Ärzte ist je dafür zur Verantwortung gezogen worden. Gerade Dr. Michel hat noch vielfältige Ehrungen erfahren.

Karl Heinz Spiegel wurde ein solches Opfer – man geht vom 350.000 bis 400.000 Zwangssterilisierten im damaligen Deutschland aus. Er wurde im Dezember 1934 gegen seinen Willen sterilisiert. 

Auch danach war er berufstätig, wurde aber wegen seiner epileptischen Anfälle bald arbeitslos. Nach einem schweren epileptischen Anfall kam er im Mai 1937 in die Landesheilanstalt Hadamar bei Limburg an der Lahn. Zum Glück kümmerte sich sein Bruder um ihn und erreichte, dass er schon bald entlassen wurde. Anschließend lebte Karl Heinz Spiegel wohl bei seinem Bruder.

Mit der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges begann eine weitere Phase der Verfolgung kranker, behinderter und nicht angepasster Menschen. Sie war für sehr viele von ihnen tödlich, so auch für Karl Heinz Spiegel.

Mit einem auf den 1. September 1939 rückdatierten Ermächtigungsschreiben Hitlers wurde diese Phase zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ eingeleitet. 

Der auf den 1. September 1939 rückdatierte und auf privatem Briefpapier geschriebene „Euthanasie“-Erlass Hitlers.
Am 27. August 1940 zeigte Reichsleiter Dr. Philipp Bouler (von der „Kanzlei des Führers“) diesen Reichsjustizminister Franz Gürtner
(siehe den handschriftlichen Vermerk unten). 

Unter Tarnnamen organisierte die „Kanzlei des Führers“ die Ermordung von ca. 70.000 Geisteskranken und körperlich Missgebildeten im Rahmen der „Aktion T 4“. Die Tötungen erfolgten mit Kohlenmonoxyd in sechs Anstalten im Deutschen Reich, u.a. auch in der Anstalt Hadamar. Dieser T4-Aktion entging Karl Heinz Spiegel noch, da er außerhalb der Anstalt Hadamar lebte und diese Aktion u.a. auf Proteste vor allem des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen, („Löwe von Münster“) am 24. August 1941 eingestellt wurde. 

Im folgenden Jahr gingen diese Krankenmorde aber weiter. Das geschah nun dezentral und nicht mehr mit Gas, sondern mit Medikamenten („Luminal“ u.a.), durch Hungerkost u.ä. Dieser dezentralen Mordaktion fiel Karl Heinz Spiegel zum Opfer. Er geriet in sie, als er Ende November 1942 einen neuerlichen schweren epileptischen Anfall erlitt und daraufhin in die Anstalt Hadamar eingeliefert wurde.

Tötungsanstalt Hadamar, um 1940 (Quelle: HIER)

Bei seiner Eingangsuntersuchung hielt der Arzt fest, dass Karl Heinz Spiegel ab und zu epileptische Anfälle habe. Doch damit nicht genug. Um festzustellen, ob Karl Heinz Spiegel ein „wertvolles“ Mitglied der „Volksgemeinschaft“ war, prüfte man sein politisches Wissen und befragte ihn zu aktuellen tagespolitischen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges. Dazu wusste er einiges, aber nichts Näheres. Das Urteil über ihn lautete im Krankenbericht: Lebt ohne besondere Anteilnahme an dem Weltgeschehen in den Tag hinein. Man wollte ihm nicht gut und stellte ihm die nach der Befragung wohl schwer nachvollziehbare Diagnose: angeborene Epilepsie mit Seelenstörung.

Drei Wochen nach der Einlieferung in die Anstalt Hadamar starb Karl Heinz Spiegel. Der letzte Eintrag in seinem Krankenblatt lautet: „In den letzten Tagen Verstimmungen… Fügte sich nicht in die Hausordnung… (unleserlich) von Anfällen. Heute exitus im Stat. Epi.“ (Heute Tod im Status Epilepsie).